Interessanter Artikel von Charlotte Eblinger, Personalberaterin Wien
„Da muss es doch bestimmt noch jemanden Besseren geben“ spielt es für viele Unternehmen nicht mehr, ist sich Personalexpertin Charlotte Eblinger sicher
Die Demografie, der Wertewandel und die erhöhten Qualifikationsanforderungen an Mitarbeiter:innen führen dazu, dass es auf dem Arbeitsmarkt heißer zugeht als je zuvor. Unternehmen haben auf allen Ebenen mehr offene Stellen, als sie besetzen können, und die Zahl der Bewerbungen pro offene Position sinkt dramatisch. Wer seine Ansprüche an Qualifikation, Erfahrung und Typus der neuen Mitarbeitenden nicht herunterschraubt, sucht ein Jahr oder länger. Die Macht am Arbeitsmarkt haben in vielen Bereichen die Arbeitnehmer:innen übernommen. Unternehmen können nicht mehr frei aus einem Pool an unzähligen Bewerberinnen und Kandidaten wählen.
Was bieten Firmen im Wettbewerb um qualifizierte und unqualifizierte Talente? Jedes Unternehmen schnürt sein eigenes, zu sich passendes Angebotspakt. Die Palette reicht von „einen Purpose bieten“ bis zur Lehrlingsausbildung. Manche Arbeitgeber:innen setzen auf einen Purpose, der der Tätigkeit des Unternehmens entspringt („Wir retten Leben“), andere bieten darüber hinaus regelmäßige eintägige sinnstiftende Aktionen außerhalb des Unternehmens an – wie eine Mitarbeit beim Roten Kreuz. Selbstbestimmung und Flexibilität sind zwei große Worte, die so mancher Betrieb als regionales Headquarter mit schnellen Entscheidungen im Haus anbieten kann. Andere sind gerade dabei, veraltete lange Entscheidungswege im Sinne der Mitarbeitenden abzubauen. Die Flexibilität findet ihren Niederschlag in Remote Working, Viertagewoche und Jobrotation.
Branchenfremden Personen ohne Erfahrung eine Chance zu geben findet im Military Recruiting seine Anwendung. Das österreichische Bundesheer bildet Jahr für Jahr ausgezeichnete Führungskräfte aus, die so manches Unternehmen mit Freude aufnimmt und ihnen das Business beibringt. In die gleiche Kerbe schlägt die Etablierung von Lehrlingsprogrammen, Internships, Begleitung von universitären Abschlussarbeiten und Mentoring, um die jungen Talente an Bord zu holen, noch bevor sie sich entfaltet haben. Ein Investment in die Ausbildung der Jungen ergibt auf jeden Fall Sinn, wenn erfahrene Mitarbeitende langfristig nicht leistbar oder gar nicht mehr zu bekommen sind.
Hohe Gehaltsforderungen
Apropos leistbar: Ein ganz eigenes Thema inmitten der Wunschliste von Bewerberinnen und Mitarbeitern ist das Thema Gehalt. Hier kommt es – vor allem mit dem Ausbildungsbackground aus den sogenannten Mint-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) – zu Forderungen bei Jobwechseln von bis zu 50 Prozent vom aktuellen Gehalt. Gehaltsexperten beobachten in den Bereichen IT/Technik/Finanzen/Vertrieb Gehaltsvorstellungen, denen Firmen nur in der größten Verzweiflung nachgeben können. So manches Unternehmen lässt sich auf das hohe Gehalt – jedoch umgerechnet auf eine Viertagewoche – ein. Wenn die Summe für fünf Tage beziehungsweise 38,5 oder 40 Stunden pro Woche nicht aufzubringen ist, dann eben in Teilzeit.
Arbeitgeber:innen, die nicht auf die überdurchschnittlichen Gehaltssprünge eingehen können und wollen, setzen auf mehr Vergütungstransparenz im Unternehmen, informieren, wer wie viel verdient sowie über Durchschnittsgehälter am Markt, um den Argumenten „Ich kenne wen, der verdient schon XY“ den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Andere setzen auf performanceabhängige Fünfjahresgehaltspläne, um die Mitarbeitenden langfristig zu motivieren und ein Versprechen abzugeben, unter welchen Bedingungen und wann der ersehnte Betrag am Gehaltszettel erscheinen wird. Im Gegensatz dazu steht ein ebenfalls zu beobachtender Trend: das Angebot, das gesamte Gehalt als Fixgehalt (ohne Boni und Prämien) und nicht als Grundgehalt mit performanceabhängigem variablem Gehaltsbestandteil zu bekommen.
Prozesse beschleunigen
Die veränderten Rahmenbedingungen sind eine Herausforderung für Führungskräfte, die nun lernen, ihren Mitarbeitenden zu vertrauen, dass diese auch remote ihre Arbeit verrichten, sie dabei jedoch nicht unbegleitet zu lassen. Die mühsam gefundenen Talente im Unternehmen zu halten ist dann nämlich großteils Aufgabe der Vorgesetzten. Sonst geht der Kampf am Arbeitsmarkt in die nächste Runde.
Und Geschäftsführung und HR stehen vor der Herausforderung, den Recruitingprozess zu beschleunigen. Die Zeiten von Auswahlprozessen, die sich über Monate erstrecken und bei denen Bewerber:innen viele Termine absolvieren und allen Gesprächspartner:innen das Gleiche erzählen, sind vorbei. Auch wenn aufgrund von Zoom und MS-Teams viele Anfahrtswege entfallen, haben Kandidaten:innen kein Verständnis mehr dafür, dass mit ihrer Zeit großzügig umgegangen wird. Und so manche:r fragt sich: „Wenn das Unternehmen schon so viel Zeit benötigt, eine Entscheidung über meine Einstellung zu treffen, wie geht es dann im Arbeitsalltag weiter?“
Um mit Erfolg auf die geänderten Spielregeln am Arbeitsmarkt reagieren zu können, bedarf es am Drehen vieler Schrauben in Unternehmen. Auch interne Prozesse und die Unternehmenskultur müssen einer Prüfung auf Zukunftstauglichkeit standhalten. Sätze wie „Wir bieten neuen Mitarbeiter:innen nur befristete Arbeitsverträge an und schauen, ob sie zu uns passen, wir haben nämlich keine Kündigungskultur!“ werden zum Auslaufmodell werden.
Quelle: Charlotte Eblinger, derStandard.at vom 19.05.2022